Jawohl – es ist Segen und Fluch zugleich, das allseits beliebte und zuweilen gehasste ERP-System. Tausende Firmen nutzen es, haben sich viel von der Einführung oder der Umstellung auf ein moderneres System versprochen. Manche haben dabei ihr blaues Wunder erlebt, waren handlungs- oder lieferunfähig, stillgelegt über Tage oder Wochen. Und einige Firmen haben die Einführung oder Umstellung nach einiger Zeit sogar wieder abgebrochen und sind zurück auf ihr altes System gegangen, trotz sechs- oder siebenstelliger Ausgaben. Aber wenn es denn mal läuft, sollte es doch auch möglichst effizient genutzt werden.
Standardprozesse im ersten Schritt
In erster Linie werden natürlich die Standardprozesse abgebildet, also die Auftragsabwicklung, Angebotserstellung, Bestellwesen, Verkaufsrechnungen, Umsatzauswertungen und ggf. damit verwandte Prozesse. Das ist essentiell für das operative Geschäft und hat somit absolute Priorität. Je nach Ausprägung der IT-Landschaft sind noch die Bereiche Lagerbestandsverwaltung und Finanzwesen angedockt, welche z.T. aber auch noch mit separaten Softwarelösungen betrieben werden – mit oder ohne Schnittstelle zum ERP-System.
Prozesse aus der zweiten Reihe
Und dann gibt es da noch eine Reihe von anderen Funktionen, die oft im Standard enthalten sind, aber nicht genutzt werden. Sei es aus Unkenntnis, fehlender Schulung oder leichter Abneigung.
Denn Hand aufs Herz, eine Anfrage bei einem neuen Lieferanten ist doch schneller per E-Mail geschrieben oder am Telefon kommuniziert als extra einen Vorgang im ERP-System anzulegen. Für Kontaktdaten gibt es ja Outlook – das ja erfreulicherweise auch E-Mail-Adressen abspeichert, mit denen ich schon einmal Kontakt hatte. Und Aufgaben kann ich mir hier auch gleich anlegen. Und die Notizen zu einem Telefongespräch mache ich mir schnell auf einem Zettel, das kann ich ja später noch in einer E-Mail an meine Kollegen weiterleiten. Und der Kunde will ja auch nicht zu lange auf sein Angebot warten – wozu also unnötige Dokumentation eines neuen Verkaufsprojekts? Und die Reklamationen haben wir schon immer in einer Excel-Liste aufgeführt. Die Ersatzware oder Gutschrift bekomme ich schon irgendwie erstellt. Ich kenne ja den Vorgang, kein Grund hier extra eine Rekla-Nummer anzulegen. Wie ging noch mal die Ausfuhrerklärung? Wir hatten doch irgendwo mal eine Arbeitsanweisung abgelegt …
Haben Sie mitgezählt? Outlook, Excel, Notizzettel, Word (für manuellen Lieferschein), FiBu-Programm (für Gutschrift) – tolle, schnelle Lösungen, aber ohne Bindung zum Vorgang, zum Kunden, zu anderen Mitarbeitern.
Gründe gibt es viele
Finden Sie sich bei dem einen oder anderen Vorgang wieder? Oder erkennen Sie Abläufe aus Ihrer Firma, die grundsätzlich gut laufen, aber wehe, ein Mitarbeiter fällt aus?
Zum einen ist da die Zuständigkeit. Manche Firmen sind so klein, dass verschiedene Prozesse von ein und demselben Mitarbeiter durchgeführt werden und je nach Anzahl der Vorgänge hat er oder sie auch meistens noch den Überblick. Es kann aber auch genau umgekehrt sein, dass nämlich die Prozesse von verschiedenen Mitarbeitern gesteuert werden, die jedoch nur ihren eigenen Arbeitsbereich optimiert haben, ohne über den Tellerrand zu schauen und abteilungsübergreifende Synergien zu erkennen.
Zum anderen ist es aber auch oft gar kein böser Wille – die Funktionen des ERP-Systems sind schlicht nicht bekannt oder nicht geschult worden. Schließlich bietet die Software in der Regel gewisse Grundfunktionen, die nicht zu 100% auf den Unternehmensablauf passen und somit gar nicht in Betracht gezogen werden.
Und dann ist da noch der Faktor „Wollen“. Es mag zu Beginn so aussehen, als sei der Aufwand zu groß für den einzelnen Vorgang und die bisherige Arbeitsweise sei doch viel schneller. Korrekt, ist es auch.
Aber wer verknüpft später die Reklamation aus der Excel-Tabelle mit der erstellten Verkaufsgutschrift? Wer informierten Außendienst vor seinem nächsten Kundenbesuch, dass es hier zuletzt vermehrt Reklamationen gegeben hat? Wer zieht die Querverbindung zwischen der neuen Preisanfrage des Kunden und dem Verkaufsprojekt? Wer informiert den Innendienst über den neuen Ansprechpartner beim Kunden, an den dringend ein Angebot gesendet werden soll?
Das Abbilden der Prozesse mit all ihren Informationen an einer zentralen Stelle, nämlich dem ERP-System, ist eine Investition in zukünftige Fragestellungen. Der Aufwand wird sich erst später auszahlen – leider.
Was kann man also tun?
Das schwierigste ist wahrscheinlich, sich dafür zu entscheiden, die Prozesse der zweiten Reihe in ERP-System zu übernehmen oder zumindest durch das System eine Unterstützung zu implementieren. Das muss und sollte nicht unbedingt mit Kosten für Sonderprogrammierung, sog. Customizing, einhergehen. Dies verzögert oftmals die Umsetzung und bleibt als Möglichkeit zur weiteren Verbesserung in der Zukunft immer noch eine Option. Man kann aber einfach mal anfangen, ohne großen Aufwand:
Prozesse identifizieren
Prüfen Sie, welche Prozesse überhaupt existieren, die bisher noch nicht im ERP-System abgebildet sind. Sie werden überrascht sein, welche es da gibt und bei welchen man automatisch denkt, dass sie nicht umgestellt werden können.
Bordmittel nutzen
Als Bordmittel werden gerne Funktionen in einer Software bezeichnet, die bereits implementiert sind bzw. zum Standard gehören. Also nichts, was extra programmiert werden muss. Der Vorteil ist, dass sie sofort zur Verfügung stehen, die Benutzung evtl. der von bekannten Funktionen ähnelt und keine Zusatzkosten entstehen.
Kreativ sein
Wenn Sie bei der Verwendung der Bordmittel feststellen, dass doch das eine oder andere Feld fehlt, ist das noch kein Grund, an dieser Stelle zu stoppen. Es gibt sehr oft Felder, Checkboxen, Listen, Dropdownfelder etc., die aktuell nicht verwendet werden und eigentlich einem anderen Zweck dienen. Warum diese Felder nicht für meine Zwecke missbrauchen und neu definieren? Hier ist Kreativität gefragt und ein wenig Vorarbeit. Denn ich muss mich vorher fragen, welche Informationen ich abbilden will und welche ich später abrufen will.
Tags, Tags, Tags!
Wenn es die o.g. Felder gibt – unbedingt benutzen! Tags, also Schlagworte, qualifizieren einen Vorgang und lassen sich später hervorragend für Eingrenzungen oder Auswertungen verwenden. Das erleichtert nicht nur die Suche nach bestimmten oder gleichartigen Vorgängen, sondern kann auch für Statistiken verwendet werden, die bisher noch nicht erhoben werden konnten. Nutzen Sie Filterfunktionen, wann immer sie sich bieten.
Mitarbeiter finden
Finden Sie Mitarbeiter, die Spaß daran haben, sich bei solchen Projekten kreativ einzubringen. Es gibt immer wieder Kollegen, die sich extrem gut mit dem ERP-System auskennen und auch gerne mal Sachen ausprobieren. In Abstimmung mit der IT-Abteilung entsteht hier dann eine sehr wertvolle Ressource, um die Umstellung in Gang zu bringen oder die anderen Mitarbeiter zu unterstützen.
Schulung, Schulung, Schulung!
Neues System, Schulung und ab geht’s. So oder so ähnlich ist es in vielen Firmen. Damit wird natürlich die grundsätzliche Bedienung vermittelt und sichergestellt, dass sich die Mitarbeiter zurecht finden. Viele sind dadurch erst einmal froh, ihre Aufgaben überhaupt ausführen zu können und machen sich keine Gedanken, wie sie evtl. einfacher durch das System navigieren könnten oder welche Tricks & Kniffe sie noch anwenden könnten. Einige sog. Power-User haben da oft deutlich mehr drauf und beherrschen das System perfekt, auch weil sie ständig Optimierungen vornehmen, Shortcuts ausprobieren, Favoriten anlegen etc. Das macht sie schneller und davon sollten alle Mitarbeiter profitieren. Legen Sie bei Schulungen also auch mal den Schwerpunkt auf reine Optimierung in der Bedienung im Sinne von „schneller & leichter“.
Was bringt das ganze?
Nun, zunächst einmal ist das ERP-System schon da, es muss nicht angeschafft oder installiert werden. Ggf. geht es nur um zusätzliche Berechtigungen.
Die Information, die hier erfasst wird, muss nicht mehr verteilt werden. Sie ist jederzeit abrufbar, unmittelbar nach der Eingabe.
Die erfassten Daten sind zentral gespeichert und somit mutmaßlich auch direkt in der Datensicherung enthalten. Zusätzliche Sicherungskonzepte sind nicht erforderlich.
Die Daten sind nicht nur schneller verfügbar, sondern auch schneller kommuniziert, da keine gesonderten Schnittstellen zwischen verschiedenen Systemen (sofern überhaupt realisierbar) erforderlich sind. Das erhöht außerdem die Transparenz für Mitarbeiter und Management.
Gelernte Abläufe aus anderen Funktionsbereichen (z.B. Auftragsabwicklung) können angewendet und müssen nicht neu erlernt werden. Das erhöht die Akzeptanz bei den Anwendern und bringt erneut einen Geschwindigkeitsvorteil. Außerdem lassen sich Vertretungsregeln bei Urlaub oder Krankheit leichter umsetzen.
Zentrale Adressdatenbanken sind stets aktuell und können für Vertrieb, Marketing, Einkauf und Buchhaltung genutzt werden.
Insgesamt stehen im gesamten System mehr Informationen schneller zur Verfügung, um z.B. bei Kundenanfragen schneller und kompetenter Auskunft geben zu können.